Herr Prof. Müller-Lietzkow, obwohl Sie eigentlich aus den Wirtschaftswissenschaften kommen, sind Sie nun geschäftsführender Direktor des Institutes für Medienwissenschaften an der Universität Paderborn. Sicherlich haben Sie im Laufe der Jahre gesehen, wir sehr sich Massenmedien durch das Web 2.0 verändert haben. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen im Hinblick auf öffentliche Kommunikation? Inwiefern hat das Web 2.0 unser Verständnis von Massenmedien verändert/erweitert?
Das Web 2.0 ist ja eigentlich weit weniger als es der voluminöse Titel erwarten lässt. Web 2.0 ist eigentlich nur die konsequente Weiterentwicklung zahlreicher Modelle, die in den Jahren 1995-2000 entwickelt wurden. Breitbandzugang, höhere Diffusion bzw. Penetration der Haushalte sowie „Normalisierung“ im Umgang mit dem Web führen nur dazu, dass heute weit mehr Menschen das Netz ganz natürlich nutzen und auch bereit sind, das breite Spektrum auszuprobieren. Sicherlich hat das Web insgesamt die Frage von traditionellen 1:n-Medien, wie dem Fernsehen oder auch dem Hörfunk zu den m:n-Medien gelenkt. Heute geht es um eine multidirektionale Betrachtung der Dinge.
Was glauben Sie, welche Anreize Menschen haben, öffentlich im Internet zu kommunizieren?
Die Frage birgt zwei Aspekte: Erstens, warum Menschen überhaupt öffentlich kommunizieren und zweitens, ob es hierzu tatsächlich auch Anreize gibt. Zunächst kann man beobachten, dass es offenkundig ein hohes Mitteilungsbedürfnis bei vielen Menschen gibt, welchem durch das Web leicht Abhilfe geschaffen werden kann. Der Anreiz liegt aber viel mehr in der Erwartungshaltung, dass das kommunizierte auch rezipiert wird – oder gar in Reinkultur eine Reaktion erfolgt. Einer der zentralen Gratifikationsmechanismen des Netzes liegt ja in der Interaktion bzw. dem Wechselspiel der Rollen aus Kommunikator und Rezipient.
Glauben Sie, dass sich der öffentliche und der private Charakter von Medien im Bezug auf Kommunikation durch diese Erweiterung der Möglichkeiten vermischen?
Dies ist keine Glaubensfrage sondern Realität. Vor allem in sozialen Netzwerken differenziert das Publikum immer weiter aus und ich bin mir längst nicht mehr im Klaren darüber, wer meine persönliche Botschaft alles liest. User Generated Content hat somit das Kernziel der Entgrenzung. Umgekehrt müssen sich traditionelle Medienanbieter über diese Veränderung nicht ärgern, sondern lernen, welche Chancen darin liegen. Zugegeben, dies ist ein ziemlich komplizierter Weg, aber gerade die Social Game Anbieter beweisen, wie auch hier eine Marktkapitalisierung gestaltet werden kann.
Bisher war das Telefon/Handy eher als Medien für 1:1-Kommunikation bekannt. Inzwischen kommen immer mehr Smart Phones auf den Markt und auch Mobile Marketing wird zunehmend zu einem wichtigen Bestandteil der Marketingmaßnahmen. Wird nun auch unser Handy zum Massenmedium?
Das „Handy“ wird nicht zum Massenmedium, wohl aber zur Plattform für soziale Interaktion, die über den Grad der 1:1-Kommunikation hinausreicht. Mobile Endgeräte, wie iPad, Samsungs Galaxy Tab oder auch die Smartphones mit Android und Windows 7, ganz zu schweigen vom iPhone 4 sind Kleincomputer die dem Schlagwort „Konvergenz“ eine ganz andere Bedeutung einräumen, als dies noch die Smartphones der ersten Generation (z. B. Nokias Communicatorreihe) zu leisten vermochten. In der nächsten Generation wird die Trennschärfe der Geräte m. E. durch eine noch höhere Leistungsfähigkeit der Endgeräte eher zu der Frage führen, ob und wie sich Single-Source-Geräte adaptieren müssen. Ein „Fernseher“ ist ja schon heute ein Webkanal, eine 3D-Visualisierungsmaschine oder auch ein Monitor für andere Geräte. Die Zukunft liegt dabei in einer stetig steigenden Mobilität.
Immer mehr User nutzen die Möglichkeit, ihre eigene Meinung in Form von eigenen Blogs oder durch Social Networks online zu kommunizieren. Wie schätzen Sie den Einfluss der Internet-Community auf die öffentliche Meinung ein? Wie wird sich dieser zukünftig entwickeln?
Die öffentliche Meinung im Jahr 2010 wird nach wie vor durch die Leitmedien Print (Tageszeitungen, wenn auch im Netz) und Fernsehen am stärksten beeinflusst. Dies wird sich auch in den nächsten Jahren nicht so schnell ändern – aber es ändert sich die Kommentierung. D. h. der Diskurs wird breiter und mehr Menschen werden sich an öffentlicher Meinung beteiligen. Dies ist grundsätzlich in pluralistisch demokratischen Gesellschaften eher wünschenswert und gut.
Ist es durch die vielen Möglichkeiten, die das Web 2.0 bietet, heute schwieriger Qualitätsjournalismus von den vielen anderen Veröffentlichungen zu unterscheiden? Wie kann man den Benutzer dazu sensibilisieren, einen guten von einem schlechten Artikel zu unterscheiden?
Lesen, lesen, lesen und nochmals lesen. Nur wer viel liest und sich ernstlich mit Sprache beschäftigt, wird zukünftig investigativen Qualitätsjournalismus deutlich von PR-getriebenen Medien unterscheiden können. Die PR-Profis sind inzwischen sehr gut und können in quasi-journalistischer Manier nahezu jeden Text simulieren und somit auch entsprechend Journalisten unterstützen. Darüber hinaus: Blogs und andere Medien des Web 2.0 müssen zunächst den Gegenbeweis erbringen: Sind andere Medien „schlechter“ als diese? Ich denke, dass dies noch eine geraume Weile dauern wird.
Viele Medienmacher stellen sich aktuell die Frage: Wie kann man in Zukunft mit Inhalten Geld verdienen? Haben Sie eine Idee?
Ja! Aber um nicht zu platt zu antworten: Es wird vor allem um die Frage der Monetarisierung von Informationsselektion gehen. Diejenigen verdienen Geld, die echte Mehrwerte bieten. Unterhaltungsmedienanbieter verdienen Geld, wenn Personalisierungsprozesse richtig gehandhabt werden. Diese Personalisierung besteht vor allem in der Differenzierung gegenüber dem nicht-zahlenden Kunden. Ich denke, dass vor allem die ganz großen Medienkonzerne mit geringer Diversifikationstiefe hier eher Probleme bekommen werden, als z. B. ein global aufgestellter Riesenkonzern, wie Bertelsmann, die durch den in den Medien durchaus üblichen Weg der Querfinanzierung weiterhin sehr schwarze Zahlen schreiben werden.
Autor Marcus Albers ist es gelungen, sein Buch „Meconomy“ ohne die Hilfe eines Verlages zu veröffentlichen. Zunächst als E-Book, inzwischen als Book-on-demand. Viele gute Autoren arbeiten bei großen Zeitungen und Magazinen – wie können auch sie sich davon lösen?
Warum müssen sie sich lösen? Gibt es einen Zwang zur Lösung? Problematisch finde ich lediglich die Ausbeutung von Autoren im Hinblick auf den üblichen Druckkostenzuschuss. Ich denke, die Lektoren sollten einfach sehen, wann ein Buch „reif“ ist und dann wird es seinen Markt finden. Ich bin kein Freund der absoluten Kostenlos- und immer-verfügbar-Kultur. Die Symbiose aus Autor und Verlag gilt es nicht in Frage zu stellen, sondern ich denke, dass diejenigen, die sich nicht bei Verlagen durchsetzen können, eine neue Chance haben, dennoch Ihre Publikation im wahrsten Sinne publik zu machen – auch unter der Prämisse ggf. eben kein Geld zu verdienen. Aber das ist ja mit den Creative Commons Lizenzen heute sehr gut möglich und begrüßenswert.
Kommen wir nun zur Ausgangsfrage. Wir behaupten: Massenmedien entwickeln sich immer mehr zu Medienmassen. Wie bewerten Sie diese Aussage?
Medienmassen – viel Licht, noch mehr Schatten – sind ein Ausdruck der hohen Bedeutung von Medien in der modernen Gesellschaft. Hätte man Luhmann oder auch Habermas schon vor Jahren ernster genommen, wären einige sicherlich heute nicht so „überrascht“. Das Metasystem Medien, wie es Niklas Luhmann nennt, zeigt durch das Web erst seine ganze Breite. Die Kunst, das Vermittlungsmodell der Zukunft, wird daher in der Schulung geeigneter Suchstrategien liegen – konkreter, wie man der Komplexität des Metasystems im Alltag dennoch Herr werden kann. Dann wird aus den Medienmassen gar ein Fundus der besonderen Natur und die kulturelle, informative und unterhaltende Breite zum angenehmen Rahmen der Mediennutzung, welche heute ohnehin primär parallel stattfindet. Oder wir lernen einfach mal wieder den Ausknopf häufiger zu bedienen.
Autorin:
Yvonne Gottschlich