Wie funktioniert modernes Arbeiten ohne feste Arbeitszeiten? Welche Entwicklungen können daraus entstehen? Und wo gibt es noch Verbesserungsbedarf?
Es ist Sonntag. Montag beginnt wieder der ganz alltägliche Arbeitsstress. Viel zu früh aufstehen, um eine Stunde im Morgenstau zu verbringen und das fünf Tage die Woche. Nach acht Stunden dann schnell nach Hause rasen, um sich um Familie und Freunde zu kümmern. Jahrzehntelang hat dieser Rhythmus den Alltag vieler Deutscher bestimmt, doch damit könnte bald Schluss sein, denn immer mehr Unternehmen arbeiten daran, sich von dem starren Bild der festen Arbeitszeiten loszulösen. Was das genau heißt und welche Veränderung eine Umstrukturierung mit sich bringt, wird sich im Folgenden zeigen.
Die Full Moon Group ist eine junge aufstrebende Agentur, die mit ihrem Fachwissen in den Bereichen Event- und Kommunikationsplanung Unternehmen von thyssenkrupp über Chupa Chups bis Lego berät. Außerdem ist sie seit März der neue regionale Förderer der Geschäftsstelle Stuttgart des MTP e.V. und hat uns im Rahmen der AgenTour, einer Führung durch Stuttgarter Marketingagenturen, zu sich eingeladen.
Seit der Gründung 2002 wächst das Unternehmen stetig. Das Großraumbüro in Stuttgart verzeichnet mittlerweile 135 Mitarbeiter. Noch bis Januar 2017 sah der Alltag hier nicht anders aus als in anderen Agenturen, bis Iris Zenegaglia, Mitarbeiterin im Bereich HR, Gedanken an ein neues, innovativeres System entwickelte.
Um die Arbeitsmodelländerung anzugehen, benötigte es viel Recherche. Was für Möglichkeiten existieren und wo wird ein offener Arbeitsalltag bereits gelebt?
Als Vorbild diente an dieser Stelle der Silicon Valley und insbesondere der Vorreiter Google. Die 20-Prozent-Regel ermöglicht es den Angestellten, sich einen Tag in der Woche einem Herzensprojekt zu widmen. Dabei kamen kreative und innovative Ideen heraus, wie „Gmail“ oder „Google Maps“. Da viele Projekte nicht umsetzbar waren oder im Sande verliefen, wurde diese Regelung mittlerweile wieder abgeschafft. Dennoch sind die Mitarbeiter bei Google kaum noch an einen festen Arbeitsplatz gebunden und bevorzugen es, sich in individuell eingerichtete Solozellen zurückzuziehen. Solange die Arbeit getan wird, steht es den Mitarbeitern frei, zwischendurch Tischkicker und Billard zu spielen oder eine Runde durch den hausinternen Pool zu schwimmen. Von zu Hause aus kann ebenso gearbeitet werden, doch die meisten Mitarbeiter bevorzugen weiterhin das Bürogebäude, das regelrecht einem Spielplatz für Erwachsene gleicht.
Abgesehen von den Solozellen konzentriert sich die Full Moon Group eher auf die Loslösung der Arbeitszeiten vom Arbeitsalltag. Dabei definierte die Agentur zunächst einmal Richtlinien, an welche die Mitarbeiter nach wie vor gebunden sind.
Diese unterscheiden sich innerhalb der Agentur je nach Teilbereich. Generell geht es bei den Rahmenbedingungen um die Festlegung der Kernarbeits- und Kernerreichbarkeitszeiten und um Home-Office-Tage.
Um die Rahmenbedingungen optimal zuzuschneiden, wurden vor der Einführung des neuen Arbeitsmodells viele Mitarbeitergespräche geführt, die zu den Grundregeln geführt haben. Sind diese erfüllt, steht es den Mitarbeitern frei, Zeit und Raum ihrer Arbeit selbst zu bestimmen. Das bedeutet, dass sie sich selbst einteilen dürfen, wann sie was erledigen und wie lange sie dafür brauchen.
Morgens im Büro arbeiten, um 14 Uhr ins Schwimmbad gehen und um 16 Uhr wiederkommen und weiterarbeiten. Sich mit der Kollegin im Café treffen, anstatt im Büro. Das ist von nun an möglich.
„In der Königsstraße bin ich genauso gut erreichbar, wie in meinem Büro.“, meint Iris Zenegaglia. „Wer heutzutage nicht an sein Handy geht, der will auch nicht erreicht werden.“ Den Mitarbeitern wird also auch eine große Verantwortung übertragen, selbständig zu arbeiten, was überwiegend positiv aufgenommen wird. Es wird als hohe Wertschätzung verstanden, so großes Vertrauen geschenkt zu bekommen.
Natürlich bringt die neue Art des Arbeitens auch Nachteile mit sich. Zum Beispiel drohen der Informationsfluss und die Kommunikation gestört zu werden. Das Problem liegt dabei in der Sichtbarkeit der Aufenthaltsorte der Kollegen. Es gibt bisher keine geeignete Plattform, in welche die Mitarbeiter eintragen können, wann sie im Büro sind und wann nicht. Oder was noch erledigt werden muss, um das momentane Projekt voranzubringen. Die Zukunft sieht Iris in einer digitalen Lösung.
Neben organisatorischen Dingen ist der Mensch die größte Herausforderung. Das alte Denkmuster „Ich muss da sein, um erreichbar zu sein“ sitzt tief in den Köpfen der Arbeiter. Das trifft ebenso auf die Vorgesetzten zu, die bisher immer davon ausgegangen sind, die Angestellten sehen zu müssen, um sie kontrollieren zu können. Dass die Angestellten jedoch genauso gute Arbeit außerhalb des Büros leisten können, muss erstmal gelernt sein. Nicht nur die ältere Genration, auch junge Mitarbeiter beginnen sich nur langsam an ihre neue Freiheit zu gewöhnen. Denn zu geregelten Arbeitszeiten ins Büro zu kommen gibt dem Alltag eine Richtung.
Interessant ist zudem, dass neu eingestellte Mitarbeiter, die die alten Arbeitszeiten nicht kennen, weniger Probleme haben sich mit dem neuen System zu arrangieren, als eingefleischte Kollegen. Es funktioniert also – es bedarf nur ein wenig Zeit zur Umstellung.
Trotz aller Schwierigkeiten sieht Iris vor allem die positiven Dinge, die das Projekt mit sich bringt. Auf die Frage, was denn das Beste an der Loslösung von Arbeitsplatz und -zeit sei, antwortet sie: „Man kann endlich Dinge regeln, die innerhalb der festen Arbeitszeit nie möglich waren. Zum Beispiel während der Öffnungszeit zur Post gehen. Oder den Klempner zu Hause empfangen.“
Die neue Regelung bietet auch besonders Familien neue Perspektiven. Endlich schaffen es die Eltern, das Kind rechtzeitig aus dem Kindergarten abzuholen oder bei einer Erkrankung spontan von zu Hause aus zu arbeiten.
„In der Full Moon Group gibt es eine hohe Frauenquote. Das war auch ein großer Punkt, der zu der Einführung des Projektes geführt hat“, meint Iris. „Die meisten Mütter kommen für drei Stunden ins Büro und arbeiten in dieser Zeit sehr effektiv.“
Genau das ist auch das Ziel – effektives und effizientes Arbeiten. Ein großer Wunsch, vor allem auch für Iris ist, dass arbeiten „leben“ bedeutet. Damit ist keinesfalls gemeint, sein Leben komplett der Arbeit zu verschreiben, sondern das Arbeiten so angenehm wie möglich zu machen. Ob dieses System diesen Wunsch erfüllt, kann noch nicht gesagt werden, da das Projekt noch in den Kinderschuhen steckt.
Eine Erweiterung des Projekts könnte unter anderem die Anmietung von Meetingräumen sein, die stunden- oder tageweise von Unternehmen gebucht werden können. Sogenannte Design Offices existieren bereits in mehreren deutschen Großstädten und bieten eine ressourcenschonende Alternative zu festen Büroräumen. Ein wenig abstrakter wird es, wenn man in Richtung virtual reality denkt.
So könnte es möglich sein, später einmal mittels einer VR-Brille von zu Hause aus virtuell ins Büro zu gehen oder sich so mit Kollegen zu treffen. Doch das ist noch leise Zukunftsmusik.
In der Gegenwart sollte sich zunächst darauf konzentriert werden, Arbeitsmodelle in kleinen Schritten zu verändern. Gerade was die Denkweise der Menschen angeht, muss noch viel getan werden. In anderen Ländern, wie in weiten Teilen Skandinaviens, wird die Arbeitszeit eher verschoben, statt aufgelöst. Die Menschen dort können in bestimmten Unternehmen ihre Arbeitszeit reduzieren. Dadurch soll produktiver und mit weniger Krankheitstagen gearbeitet werden. Diese Art des Arbeitens wird bisher in Krankenhäusern und Altenheimen ausprobiert. Klar ist allerdings, dass hier keine komplette Loslösung der festen Arbeitszeit oder gar der Arbeitsräume möglich ist, wie in der Full Moon Group. Auch Zenegaglia meint, dass man stark zwischen einzelnen Branchen differenzieren muss.
Ein einheitliches Arbeitsmodell für alle wird es nie geben, da das Arbeitsverständnis sehr stark zwischen den Branchen variiert. Auch ist es schwierig eine Umstrukturierung des Arbeitsalltags in sehr großen Unternehmen vorzunehmen. „Es ist wesentlich einfacher 140 Leute für das neue Arbeitsmodell zu motivieren, als zum Beispiel 30.000“, so Zenegaglia.
Die Arbeitswelt steht demnach noch ganz am Anfang der Aufgabe, Leben und Arbeit miteinander zu knüpfen. Ob es sich auch in anderen Unternehmen durchsetzen wird, flexibler zu Arbeiten, wird die Zukunft zeigen. Alles in allem findet das Modell großen Anklang in der Full Moon Group und macht die Agentur zu einem attraktiven Arbeitgeber. Besonders junge Menschen streben nach Entfaltung und der Verbesserung ihrer Lebenswelt. Das neue Arbeitssystem schafft Platz für ein eigenverantwortliches, kreatives Handeln. Der Grundstein für das neue Arbeitsverständnis ist gelegt und auch Iris blickt deren Umsetzung optimistisch entgegen.