„Digitalisierung“ ist ein schwer zu definierender Begriff. Viele entsprechende Bestrebungen münden letztendlich darin, dass die Digitalisierung einen ganzheitlichen Veränderungsprozess bezeichnet, der sich nicht nur auf die Umwandlung von Analogem ins Digitale beschränkt, sondern vielmehr über die technologischen Komponenten hinaus auch andere Bereiche wie Politik und Bildung, sowie unsere Gesellschaft als Ganzes tangiert. Um dem Ganzen näher auf den Grund zu gehen, haben wir ein Interview mit Dr. Christoph Bauer, Partner bei Simon-Kucher & Partners, unserem neuen Nationalen Förderer geführt. Im Rahmen des Interviews wollten wir herauszufinden, wie sich eigentlich eine Marketing- und Strategieberatung auf den technologischen Fortschritt und den einhergehenden, multidimensionalen Wandel einstellt und was dies in der Praxis bedeutet.
Frage 1: Sehr geehrter Herr Dr. Bauer, Buzzwords wie Big Data, Omni-Channel Marketing, Marketing Automation oder auch Blockchain sind in aller Munde – was sind für Sie die Trends im Bereich Marketing für das kommende Jahr?
Mit Blick auf die hohen Investitionen in diese Buzzwords innerhalb der letzten Jahre beginnt gerade eine Rückbesinnung aufs Geldverdienen. Denn viel zu häufig bringen diese Investitionen nicht die gewünschten Effekte, wie nicht nur unsere Global Pricing Study zeigt. Nur 23% der Unternehmen, die in den vergangenen drei Jahren in die Digitalisierung investiert haben, konnten überhaupt einen positiven Umsatzeffekt beobachten. Bei allen anderen blieb die Monetarisierung aus.
Die logische Konsequenz für die Marketingpraxis ist ein stärkerer Fokus auf Monetarisierungsthemen. Das führt zu Fragen wie: Für welche digitalen Innovationen und Features haben die Konsumenten überhaupt Zahlungsbereitschaft? Und was ist das richtige Monetarisierungsmodell für solche digitalen Innovationen? Ist es ein Freemium-Modell, ein Subscription-Modell, eine Auktion oder dynamisches Pricing? Und: Wie gelingt das Up-Selling in eine Premium-Version? Oder: Wie kann das „Cross-Buying“ in der digitalen Welt und insgesamt die Kundenloyalität erhöht werden? Bei den letzten beiden Fragen spielen Behavioral Economics and Gamification eine wichtige Rolle. Richtig eingesetzt, bringen sie schnell 20-30 Prozent mehr Umsatz in der digitalen Welt.
Frage 2: Was war für Sie in den letzten 10 Jahren die zentralste Änderung im Bereich Marketing?
Auch das ist ein Buzzword, aber die Antwort ist mal wieder die „Digitalisierung“. Die Digitalisierung hat erheblichen Einfluss auf Marketingfragen gehabt. Durch die Digitalisierung ist etwa die Preistransparenz deutlich angestiegen. Viele Kunden gehen heute bei der Suche nach ganz verschiedenen Angeboten – von Stromanbieter bis Kfz-Versicherung – auf digitale Vergleichsportale. Gleichzeitig wird es durch die Digitalisierung nicht nur einfacher den passenden Anbieter zu finden, sondern auch den Anbieter zu wechseln, durch Wechselservices für z.B. das Bankkonto, den Telefonanbieter oder den Stromanbieter.
Aus Sicht der Anbieter ist die gestiegen Preistransparenz und die sinkenden „Wechselkosten“ bzw. die sinkende Loyalität der Kunden eine gefährliche Mischung, da das Risiko von Preiskämpfen steigt. Smarte Unternehmen reagieren hier zum einen mit deutlich stärker differenzierten Preismodellen (Basis-Komfort-Premium). Ausgehend vom attraktiven Preisanker entscheidet dann die Up- und Cross-Selling-Exzellenz über die Marge. Zum zweiten sind innovative Loyalty Pricing-Ansätze in digitalen Treueprogrammen eine sinnvolle Maßnahme, um auf das neue herausfordernde Marktumfeld zu reagieren.
Neben den Effekten der Preistransparenz ist aber auch die Leistungstransparenz deutlich gestiegen. Fast in allen Bereichen gibt es Bewertungs- und Vergleichsplattformen. Selbst im Urlaub an unbekannten Orten bekommen Kunden absolute Transparenz über die Qualität eines jeden Restaurants. Schlechte Qualität ist daher tötlich und auch durch niedrige Preise kaum noch aufzufangen. Auf der anderen Seite erlauben Höchstwertungen bei Qualität auch ungeahnt hohe Preislevels, da die Nachfrage nach den höchstbewerteten Leistungen deutlich steigt. Das Management von Qualität, das heißt der Fokus auf den tatsächlich beim Kunden geschaffenen Nutzen, und dessen Kommunikation ist daher zum entscheidenden Faktor geworden.
Frage 3: „Marketing vs. Software“; „Ideen vs. IT“; „Marketers vs. Algorithmen“. Welche Rolle wird der Mensch in Zukunft spielen? Welche Veränderungen erwarten Sie für die Rolle und das Aufgabenfeld des Chief Marketing Officers in den kommenden 5 Jahren?
Zunächst möchte ich hier eine ganz wichtige Botschaft senden: Digitalisierung ist kein IT-Projekt. Das ist ein Fehler, den viele Unternehmen begehen. IT sollte mit am Tisch sitzen, aber nicht am Kopfende. Dort sollten Menschen sitzen, die die Bedürfnisse des Kunden kennen und die Customer Journeys ganz genau verstehen.
Vor diesem Hintergrund wird die Rolle des CMO aufgewertet. Die Digitalisierung muss kundenorientiert betrieben werden. Ansonsten drohen Feature Shocks und viele weitere Flops. Diese marktorientierte Sichtweise auf die Unternehmensführung war immer schon Aufgabe des CMO und wird es auch bleiben. Denn was früher richtig war, gilt auch noch in der digitalen Welt. Es gilt dort sogar in besonderem Maße, wie bereits mit Blick auf das Qualitätsmanagement erwähnt. Die hohe Leistungstransparenz und die Bewertungskultur lässt das Verständnis von Kundenbedürfnissen überlebenswichtig werden.
Davon unabhängig ist es aber wichtig, dass der CMO die digitalen Werkzeuge und IT-Innovationen kennt und versteht, die ihr/ihm die erfolgreiche Arbeit deutlich erleichtern können. Viele Unternehmen sammeln zurzeit zwar viele Daten, nutzen diese dann allerdings gar nicht oder nicht richtig. Das ist nur ein Beispiel.
Frage 4: Wie stellt sich Simon-Kucher als Marketing- und Strategieberatung auf die Digitalisierung ein? Werden Ihre Mitarbeiter gezielt gefördert?
Für uns gehört die Digitalisierung zum täglichen Geschäft. Als Marketing- und Strategieberatung arbeiten wir an Wachstumsstrategien sowie innovativen Preis-, Produkt-, und Vertriebskonzepten für unsere Klienten. Das sind Bereiche, die von Digitalisierung stark betroffen sind. Da wir für eine klare Orientierung an den Bedürfnissen der Konsumenten stehen, beobachten wir die Veränderungen im Kundenverhalten in der digitalen Welt ganz genau. Das macht uns zu einem guten Ratgeber und lässt uns innovative neue Konzepte und Strategien für die digitale Welt entwickeln.
Darüber hinaus ändert sich auch der Projektansatz. Er wird agiler, etwa durch schnelles Entwickeln von Prototypen mit frühzeitigem A/B-Testing statt monatelanger Konzeption. Design Thinking hilft, um Komplexität zu vermeiden und einfache Lösungen zu schaffen, die in der digitalisierten Welt dann auch funktionieren.
Konsequenterweise fließen auch die aktuellsten Entwicklungen der Digitalisierung mit Blick auf Strategie- und Marketingfragen in die Ausbildung unserer Berater ein, sowohl durch die Projektarbeit als auch durch Seminare in unserer internen Simon-Kucher Academy oder Digital Roundtables.
Frage 5: Einige Unternehmensberatungen wie Bain oder BCG haben so genannte Digital Units gegründet. Wie bewerten Sie dies und ist etwas Vergleichbares auch bei Ihnen ein Thema?
Digitalisierung ist ein extrem wichtiges Thema und daher bei uns im Board aufgehängt – ebenso wie unsere eigene Digital Unit, das Digital Solutions Team. Diese Einheit hat vor allem die Aufgabe, unsere Projektteams schnell und pragmatisch in unterschiedlichen digitalen Aufgabenfeldern zu unterstützen, zum Beispiel Data Science, Machine Learning, Big Data und schnellem Prototyping für Front-End-Lösungen. Unsere Digital Unit beschleunigt so die Entwicklung von Konzepten und deren Implementierung.
Aber nicht nur bei der Implementierung, sondern auch bei strategischen Fragen zu Erlösmodellen sowie Preis- und Vertriebsthemen in der digitalen Welt helfen unsere Digitalexperten, Zukunftsthemen zu erarbeiten und Gedankenführer bei Themen der Digitalisierung zu sein. Meine Partnerkollegen Madhavan Ramanujam aus unserem Büro im Silicon Valley und Mark Billige aus unserem Londoner Büro (beide Board Member) haben ein Team von digitalen Vordenkern um sich versammelt, um neue Gedankenanstöße schnell und zielgerichtet in die Branchenteams einzubringen.
Davon abgesehen ist es aber entscheidend, die digitale Expertise in der gesamten Mannschaft tief zu verankern. Mittelfristig wird Digitalisierung zum „new normal“ und ein ganz selbstverständlicher Bestandteil aller topline-relevanter Fragestellungen sein. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Um den Wandel zu beschleunigen, integrieren wir das Digital Solutions Team nahtlos in unsere Projektteams.
Frage 6: Wie greift man als Marketing- und Strategieberatung eigentlich so große Themen wie „Digitalisierung“ oder „Digitale Transformation“ in seinem Beratungsansatz auf? Wie geht man vor um diese Beratungsfelder in sein Leistungsportfolio aufnehmen zu können?
Es ist wichtig, die eigene Beratungsphilosophie und den eigenen Fokus auf solche neuen Themen zu übertragen. Als weltweit führender Monetarisierungsexperte fokussieren wir uns daher auch auf Fragen der Monetarisierung bei der digitalen Transformation. Das ist ein weites und sehr wichtiges Feld. Es reicht nicht, eine Vision für das digitalisierte Unternehmen der Zukunft zu haben. Sie muss ergänzt werden um eine Vision über die Monetarisierungs- und Geschäftsmodelle der Zukunft. Es reicht nicht, einen Chief Digital Officer und ein großes Digitalteam einzustellen. Das Team braucht auch einen klaren Monetarisierungsfokus und Pricing- Kompetenzen, um den digitalen Wandel profitabel zu gestalten. Es reicht nicht, technikgetrieben digitale Innovationen zu entwickeln. Sie müssen Elemente enthalten, für die die Kunden Zahlungsbereitschaft haben, etc. Wir helfen unseren Klienten also insbesondere mit der Ergänzung der Monetarisierungskomponente im Rahmen der digitalen Transformation.
Frage 7: Vor dem Hintergrund der Digitalisierung: Worauf legen Sie besonders wert bei Bewerbern – Gibt es bestimmte (technische) Kompetenzen, die Sie bei potentiellen Bewerbern besonders schätzen?
Da das Thema Digitalisierung bei uns zentral ist, sollten sich Bewerber dafür begeistern können, Unternehmen bei dem digitalen Wandel zu unterstützen durch neue digitalisierte Preis-/Produkt-/Vertriebskonzepte. Technische Kompetenzen sind erst einmal nicht erforderlich – es sei denn die Bewerber wollen bei uns im Bereich „Digital Solutions“ arbeiten. Denn grundsätzlich geht es bei uns im Kern darum, (neue) Geschäftsmodelle zu entwickeln und (neue) Monetarisierungsmöglichkeiten zu identifizieren. Dafür suchen wir weiterhin Strategen, Analytiker und Kreative. Manchmal verkörpern Bewerber alles drei, die Generalisten; oder sie sind exzellent in einer der drei Kategorien – unser Credo ist da „Der Mix macht’s“.
Frage 8: Was würden Sie dem MTP e.V. empfehlen, um sich langfristig als relevanter und digitaler Marketingplayer in Deutschland zu etablieren?
Vor allem sollten Sie im intensiven Austausch mit digital innovativen Vordenkern und Unternehmen stehen und den Studenten damit den Zugang zu diesen interessanten Arbeitgebern ermöglichen. Wichtig ist dabei, dass ein digital innovatives Unternehmen keinesfalls aus der Digitalbranche kommen muss – das kann genauso gut ein Landmaschinenhersteller sein. Gewinnt ein Unternehmen dann durch diesen Austausch mit Studenten wiederum kluge und kreative Köpfe, kommt es zu einem fruchtbaren Austausch, der wiederum positiv auf die Mitgliederbasis wirkt.