Wer „Nosedive“ kennt, die erste Folge der dritten Staffel der britischen Sci-Fi-Serie „Black Mirror“, dem dürfte Social Credit System wahrscheinlich ein Begriff sein (Wer die Serie nicht gesehen hat, eine klare Empfehlung der Autorin!). Kurz gesagt bewerten Menschen sich gegenseitig auf einer Skala von 1 bis 5 in allen Interaktionen – vom Arbeitsplatz bis hin zum Restaurantbesuch. Jeder kann das Ranking eines anderen Menschen sehen, es bestimmt maßgeblich den sozioökonomischen Status: Welche Häuser man kaufen darf, welchen Job man bekommt und so weiter. Die Protagonistin der Folge hat sich ihr ganzes Leben lang bemüht, ihren Score zu erhöhen, um sich ihr Traumhaus zu leisten. Sie muss jedoch erleben, wie er innerhalb eines Tages extrem abstürzt, während sie verzweifelt versucht, zu einer Hochzeit zu kommen, auf der sie ihr Ranking weiter pushen wollte. Ihr manischer Wutausbruch treibt sie letztendlich bis ins Gefängnis. Klingt nach unterhaltender, doch nur fiktionaler Dystopie? Nun, nicht ganz. In China sind Social Credit Systeme mittlerweile Realität.
China will die „Vertrauenswürdigkeit“ seiner Bürger einschätzen, angeblich für mehr Sicherheit und Ordnung. Aber um welchen Preis?
Verhaltensweisen, die zum Aufstieg führen – oder zum Absturz
Allgemein wird es darum gehen, was die kommunistische Partei als gutes und was als schlechtes Verhalten kategorisiert. Schlechtes Verhalten wird diszipliniert und bestraft, aus gutem können Vorteile gezogen werden. Beispiele: In öffentlichen Verkehrsmitteln rauchen, sich prügeln, im Zahlungsverzug sein, den Haufen seines Hundes nicht wegmachen: schlecht. Klingt eigentlich recht einleuchtend, oder? Aber schlecht ist eben auch, zu demonstrieren und sich gegen die Regierung auszusprechen. Gut hingegen ist, der Regierung gegenüber Lob auf sozialen Medien auszusprechen, den Nachbarn zu helfen und sich ehrenamtlich zu engagieren.
2020 soll ein Social Credit System national laufen
DAS einheitliche, nationale Social Credit System gibt es noch nicht, ist aber für 2020 geplant. Bislang gibt es mehrere Testversionen, abgesegnet von der chinesischen Regierung, die auf lokaler Ebene Gebrauch finden. Ein bekanntes Beispiel ist das „Sesame Credit“ von Alibaba, der Konzern, dem die C2C-Online-Plattform Taobao gehört (vergleichbar mit Ebay), inklusive eigenem Bezahlsystem Alipay. Alibaba bewertet die Kunden und Kundinnen auf einer Skala von 350 bis 950. In diese Bewertungen fließt unter anderem die Vergangenheit mit Zahlungsabwicklungen ein – also ob pünktlich gezahlt wurde zum Beispiel. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle, wie der Bildungsstand und soziale Kontakte – wie viele Freunde jemand online hat, seine Kommentare und Interaktionen auf sozialen Medien. Dass dies alles im Zeitalter von Big Data spielend leicht herauszufinden ist, muss wohl kaum erwähnt werden. Ein guter Score bringt einige Vorteile mit sich. In Zusammenarbeit mit chinesischen Krankenhäusern haben User von Alibaba mit einem Score von über 650 Punkten die Möglichkeit, die zeitintensive Wartezeit um einiges zu verkürzen, indem sie im Voraus bezahlen und deutlich weniger lange darauf warten müssen, aufgerufen zu werden. Sesame Credit arbeitet außerdem mit Baihe zusammen, einer großen Online Dating-Website, auf der Mitglieder mit einem hohen Score die besten, sichtbarsten Plätze erhalten.
Der Preis für „Sicherheit“ ist… allgegenwärtige Überwachung
Das nationale Social Credit System wird vermutlich eine Skala von 600 bis 1.300 Punkten erfassen. Am Anfang bekommt jeder 1.000 Punkte zugeteilt. Punkte entsprechen einem bestimmten Rang: von AAA bis D. Bürger werden also bewertet wie Unternehmen von einer Ratingagentur, nur dass hier nicht nur finanziell relevante Aspekte eine Rolle spielen. Ein Überwachungssystem von Kameras, die überall in der Öffentlichkeit angebracht sind, sowie moderne Technologie wie Gesichtserkennungs-Software machen es möglich, Einwohner zu beobachten. Aber die Regierung bezahlt auch sogenannte „Information collectors“, ganz normale Menschen, die mit einem kleinen Buch umhergehen und sich Notizen zum Verhalten ihrer Nachbarn machen. Diese Notizen landen schließlich bei einem Beamten, der Punkte für das darin aufgeschriebene Verhalten vergibt. An öffentlich einsehbaren Tafeln werden Menschen mit einem sehr guten Score geehrt – wie zum Beispiel Wang Zhaosheng aus dem kleinen Dorf Shandong. Er fand ein Portemonnaie und brachte es sofort zum Fundbüro zurück – eine Tat, für die er eine Trophäe, ein speziell für ihn besticktes Seidenbanner und selbstverständlich einen ausgezeichneten Score erhielt.
Wenn die Eltern etwas vermasseln, steckt das Kind auch in der Klemme
Aber nicht nur der persönliche Credit Score ist wichtig: Auch der Credit Score von Familie und Freunden kann den eigenen beeinflussen. So zum Beispiel verwehrte eine Universität einem jungen Mann die Anmeldung, weil sein Vater einen Kredit nicht abbezahlte – was wiederum in einem niedrigen Social Credit Score resultierte und dazu führte, dass er auf der Blacklist landete. Wer auf dieser öffentlich einsehbaren Liste des obersten Gerichtshofs steht, kann einige Probleme bekommen. Angestellte müssen um ihren Job fürchten, Eltern können ihre Kinder nicht an guten Schulen anmelden, Kredite werden verwehrt. Selbst vom Nah- und Fernverkehr kann man ausgeschlossen werden. Wer online ein Zug- oder Flugticket buchen will, muss dann möglicherweise feststellen, dass man vom System abgelehnt wird. Abgesehen von diesen Einschränkungen ist die Liste natürlich auch ein effektives Mittel, um Menschen öffentlich bloß zu stellen.
Einfach nicht mitmachen? Nicht möglich.
In Deutschland ist ein solches System allein aus Datenschutzgründen eher nicht vorstellbar. Hier streiten sich die Gemüter über Videoüberwachung in der Öffentlichkeit, die zur Aufklärung von Kriminalität führen könnten. Zwar ist China ohnehin kaum der große Vorreiter in Sachen Menschenrechten, aber letztendlich wird aus dem tatsächlichen Social Credit System vermutlich irgendwas zwischen der Dystopisierung der westlichen Medien und dem Anreizsystem für bessere Bürger, mehr Sicherheit und Friede, wie es die chinesische Regierung verspricht. Einfach nicht mitmachen geht da nicht, vor allem kann man sich nicht dagegen wehren auf öffentlichen Kameras aufgezeichnet und erkannt zu werden.
Meine persönliche Meinung: Mehr Sicherheit wird das Social Credit System bestimmt bieten. Allein wer saftig Punkte einbüßen muss, weil er über eine rote Ampel fährt, wird es sich zwei Mal überlegen, ob er das wiederholt, wenn ein Kredit auf dem Spiel steht, sein Job oder die Ausbildung seines Kindes.
Doch der Preis dafür? Fraglich, ziemlich beängstigend und auch wenn es jetzt noch übertrieben scheint, von einer Dystopie zu sprechen, in der der Staat die totale Kontrolle hat, treibt es das Social Credit System Chinas doch unweigerlich in diese Richtung.
Autorin:
Julia Grzesiak
Quellen:
Exporting Dystopia: China’s Social Credit System | The Weekly:
https://www.youtube.com/watch?v=HqqZEf4LJuw
China’s „Social Credit System“ Has Caused More Than Just Public Shaming (HBO):
https://www.youtube.com/watch?v=Dkw15LkZ_Kw
Manya Koetse: „Insights into Sesame Credit & Top 5 Ways to Use a High Sesame Score“:
https://www.whatsonweibo.com/insights-into-sesame-credit-top-5-ways-to-use-a-high-sesame-score/
Tara Francis Chan: „A Chinese university suspended a student’s enrolment because of his dad’s bad social credit score“:
https://www.businessinsider.de/china-social-credit-affects-childs-university-enrolment-2018-7?r=UK
Derrick A Paulo: „Civilising China? A contentious social credit system moves boldly forward“:
https://www.channelnewsasia.com/news/cnainsider/civilising-china-contentious-social-credit-system-moves-boldly-11419272